Sterbebegleitung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Sterbebegleitung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts

„Sterben müssen wir doch alle!“, meinte Thilo Forkel, stellvertretender Kreisvorsitzender, als Begründung für das Thema der gut besuchten Abendveranstaltung des EAK Krefeld in der Brüdergemeine. In der Tat: Schon die Römer wussten: „Mors certa, hora incerta“: Der Tod ist sicher, nur seine Stunde ungewiss.

Aber nicht jeder möchte mitten im Leben daran erinnert werden. Geht das Leben jedoch zu Ende, wünschen sich die meisten Menschen ein verständnisvolles Geleit in einer vertrauten Umgebung. Schwierige ethische Fragen treten indes auf, wenn der Wunsch besteht, das eigene Leben zu beenden, aber ein Suizid nicht mehr selbst ausgeführt werden kann. Was darf ein Angehöriger, was darf ein Arzt, was darf eine Sterbehilfeorganisation dann tun?

Der Deutsche Bundestag hatte die organisierte, kommerziell betriebene Sterbehilfe unter Strafe gestellt, das Bundesverfassungsgericht diese Strafbestimmung (§217 StGB) wieder aufgehoben. Im Moment herrscht der alte Rechtszustand. Die schweizerische „Neue Zürcher Zeitung“ titelte am 5. August 2020 auf Seite 1: „Liberalisierung der Sterbehilfe stockt. Gesetzliche Neuregelung in Deutschland steht aus“ – eine bemerkenswerte Parteinahme dieses Blattes in Einklang mit den Interessen der Schweizer Sterbehilfeorganisation „Dignitas“.

Auch wenn man bezweifeln mag, ob die erleichterte Tötung von Menschen angemessen als „Liberalisierung“ bezeichnet werden kann, setzte hier die von Guntram Teichgräber, dem Krefelder EAK-Kreisvorsitzenden, moderierte Veranstaltung an.

Ansgar Heveling MdB, einer der Initianten des im Bundestag mit Mehrheit verabschiedeten, anschließend aber vom Bundesverfassungsgericht „gekippten“ Gesetzes, erläuterte die Argumente beider Seiten: Eine deutliche Mehrheit von 80% der gewählten Bundestagsabgeordneten sieht das Handeln von Sterbehilfeorganisationen als ethisch verwerflich an. Die Mehrheit der Richter im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts hat dagegen die Selbsttötung nicht als Verzweiflungstat, sondern als Ausdruck der Autonomie des Menschen interpretiert und diese in der grundgesetzlich geschützten Menschenwürde verankert gesehen. Jeder Mensch – auch das unmündige Kind (!) – soll danach jederzeit – nicht nur im Falle einer unheilbaren Krankheit (!) – das Recht haben, sein Leben zu beenden und dafür auch Hilfe Dritter – auch mit Gewinnerzielungsabsicht (!) – in Anspruch nehmen können.

Für Ansgar Heveling ergeben sich aus dieser nun verbindlichen Rechtsauffassung einerseits erhebliche juristische Abgrenzungsfragen zu der weiterhin verbotenen „Tötung auf Verlangen“ und andererseits gewichtige Probleme hinsichtlich seiner Gewissensbindung, wenn er als Abgeordneter eine Regelung beschließen soll, die seiner eigenen Überzeugung von Wert und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens widerspricht.

Die Krefelder Bürgermeisterin Karin Meincke sprach als stellvertretende Vorsitzende des Vereins „Die Wiege e.V.“ von einer anderen Weise, mit dem Tod umzugehen: Statt einer Selbsttötung zu assistieren, setzt der Verein auf die Begleitung schwerstkranker Menschen. In zeitintensiver ehrenamtlicher Arbeit werden Sterbenskranke betreut, wodurch ihnen ihre Ängste genommen werden. Die heute verfügbare Palliativmedizin werde genutzt, um Schmerzen zu nehmen und den Kranken Erholungsphasen zu schenken. Ziel des Vereins ist es, in sechs Jahren ein bundesweites Netz aufzubauen, das Menschen zum Dasein hilft – auch und gerade in ihrer letzten Not.

Der katholische Theologe Prof. Dr. Dr. Elmar Nass schlug in seinem engagierten Vortrag einen weiten Bogen vom Anfang des Lebens bis zu dessen Ende und von Deutschland zu seinen Nachbarländern:
In Großbritannien sehe man eine „Ökonomisierung des menschlichen Lebens“, wenn der Nutzen eines „Lockdowns“ für die Rettung von Menschenleben gemessen wird an der voraussichtlichen wirtschaftlichen Leistung dieser Menschen bis zu ihrem Renteneintritt und dann den wirtschaftlichen Verlusten durch ein Herunterfahren der Produktion gegenübergestellt wird.

In Belgien werde erschreckenderweise bereits die Tötung von Babys gestattet, wenn deren Leben von anderen nicht für lebenswert gehalten werde. Nass schloss sich dagegen der Auffassung des evangelischen Theologen Eberhard Jüngel an: Auch der erbärmlichste menschliche Körper gehört einem Träger der Menschenwürde! Werden behinderte Menschen aus dem Geltungsbereich der Menschenwürde herausgenommen, verändere diese grundlegend ihre Bedeutung! Dann drohe eine „Diktatur“ der „Starken“ über die „Schwachen“. Das wäre das Gegenteil dessen, was nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus mit dem Grundgesetz angestrebt worden ist. Schon jetzt sieht Nass schwere Einbrüche in das generelle Tötungsverbot und die Unverbrüchlichkeit der Menschenwürde. Die Würde des Menschen war unantastbar, habe der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde schon 2001 gemeint.

So tue eine Besinnung auf die elementaren Grundlagen unserer Verfassungsordnung Not. Im Neuen Testament kann Nass keinen Anhaltspunkt finden, der eine aktive Sterbehilfe rechtfertigen könnte. Aber auch nach der philosophischen Ethik Immanuel Kants unterliege die reife, mündige Person erheblichen Bindungen: den ethischen Gesetzen. Der autonome Mensch hält sich nach Kant an seine – vorgegebenen – Pflichten.

Das ist unvereinbar mit Willkür, ebenso aber auch mit äußerem Druck und bloßer Mehrheitsmeinung: Akzeptanz ist kein hinreichendes ethisches Argument. Der Wunsch von Erben nach einem „sozialverträglichen Frühableben“ darf nach ethischen Maßstäben ebenfalls keine Rolle spielen. Verfassung und Strafgesetzbuch können jedoch nur dann tatsächliche Geltung erlangen, wenn sie in unserer Gesellschaft inhaltlich akzeptiert sind.

Der lebhafte Beifall für die Referenten und die zahlreichen Wortmeldungen in der anschließenden Diskussion ließen erkennen, wie sehr sich die Anwesenden von den vorgetragenen Ansichten persönlich angesprochen gefühlt haben.