Zum Zusammenleben der Kulturen in Deutschland

Zum Zusammenleben der Kulturen in Deutschland

Zum Zusammenleben der Kulturen in Deutschland

„Brauchen wir ein neues Recht der Religionen in Deutschland?“,

fragte der EAK Niederrhein auf seiner Abendveranstaltung im Anschluss an den Gottesdienst am Buß- und Bettag, 20. November 2013, in der evangelischen Kreuzkirche in Neuss-Gnadental. Pfarrer Sebastian Appelfeller hatte die hierüber zu führende Diskussion in den Rahmen des EKD-Themenjahres „Reformation und Toleranz“ gestellt und seine Gemeindeglieder hierzu speziell eingeladen.

Den Anlass für den EAK, die Frage nach dem „Religionsverfassungsrecht“ in Deutschland aufzugreifen, hatte der Abschluss von Staatsverträgen zwischen den Stadtstaaten Hamburg und Bremen einerseits, muslimischen Organisationen andererseits geboten. Diese Verträge stellten die Juristen in beiden Ländern vor Herausforderungen, die bei Staatsverträgen mit christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinschaften nicht aufgetreten sind.

Die Referenten des Abends, Kirchenrätin Julia Lutz-Bachmann, Juristische Referentin im Kirchenamt der EKD in Hannover, und ein katholische Theologe des Erzbistums Köln, vermittelten dem interessierten Publikum Einblicke in Strukturen, Praktiken und Entwicklungen muslimischer Gemeinschaften. Religionssoziologische und theologisch-religionswissenschaftliche Aspekte kamen ebenso zur Sprache wie juristische Probleme, wobei die rechtlichen Kenntnisse des Theologen und das Wissen der Juristin in Glaubensfragen für das Verständnis der Materie ausgesprochen förderlich waren.

Durch die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer sind seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, vor allem nach dem Bau der Berliner Mauer, nichtchristliche Religionen nach Deutschland gekommen, die hier zuvor nicht heimisch waren. So ist die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland heute eine andere als zuvor. Dabei ist „der Islam“, wie er sich in Deutschland präsentiert, keineswegs eine einheitliche Gruppierung. Vielmehr gibt es etliche Differenzierungen nach Glaubensrichtungen wie auch nach Herkunftsländern. Bei den Aleviten ist sogar umstritten, ob sie zu den Moslems zu rechnen sind oder eine eigene Religionsgemeinschaft bilden.

Deutlich fielen den Veranstaltungsteilnehmern die Unterschiede ins Auge, die zwischen den christlichen Kirchen und muslimischen Gemeinschaften bestehen und die eine spezielle Berücksichtigung in der Rechtsordnung benötigen:

Schon die Abgrenzung der Mitgliedschaft bereitet Probleme: Moslem ist, wer sich dazu bekannt hat, ein Moslem zu sein. Von Kindern muslimischer Eltern wird ohne weiteres die Zugehörigkeit zu dieser Religion angenommen. Das Durchlaufen eines speziellen Aufnahmeritus ist ebensowenig erforderlich wie die persönliche Zugehörigkeit zu einer Moscheegemeinde.

Nach seiner eigenen Tradition ist der Islam eine Laienreligion. Gebetsrufer und Vorbeter sind Funktionen, für die man nicht Theologie studiert zu haben braucht. Hinsichtlich der Geistlichen in den Moscheen hat die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der hierzulande zahlreichen Muslime, die zu Familien türkischen Ursprungs gehören, der türkischen Religionsbehörde für die Entsendung türkischer Imame eine Vorzugsbehandlung eingeräumt.

    Aber was bedeuten diese Besonderheiten für das Zusammenleben zwischen dem aus christlichen Traditionen und an der Seite der christlichen Religion hervorgegangenen Staat in Deutschland und den muslimischen Gemeinschaften, die aus Gesellschaften mit einem völlig anderen Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Religion stammen?

   – Wer ist berechtigt, für „die Muslime“ zu sprechen, wenn es eine Vielzahl muslimischer Vereinigungen mit freiwilliger Zugehörigkeit gibt, in denen nur eine Minderheit Mitglied ist?
   – Kann der deutsche Staat den Einfluss eines anderen Landes auf seine Lehrpläne an öffentlichen Schulen hinnehmen, wenn die vom türkischen Staat finanzierte Organisation DITIB Vertragspartner ist?
   – Inwieweit ist der deutsche Staat berechtigt und gefordert, auf die Inhalte des islamischen Religionsunterrichts Einfluss zu nehmen, wenn einerseits die Religionsgemeinschaften selbst dafür verantwortlich sein sollen, andererseits aber Staatstreue und Bejahung von Demokratie, individueller Religionsfreiheit sowie pluralistischer Gesellschaft seitens der Geistlichen nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann?
   – Ist es angemessen, ebenso wie christlichen Gefängnisseelsorgern auch islamischen Geistlichen den Zutritt zu Gefängnissen zur Betreuung muslimischer Strafgefangener zu gewähren, wenn es in islamischen Ländern keine entsprechende seelsorgerische Praxis und dementsprechend auch keine darauf ausgerichtete Ausbildung der Geistlichen gibt?
   – Wer ist qualifiziert, als Mitglied eines Beirates an einer deutschen Universität die inhaltliche Übereinstimmung der Lehre von Professoren für islamische Theologie mit den Grundlagen ihrer Religion zu beurteilen?

Die aufgeworfenen Fragen sind zahlreich. Die bislang gegebenen Antworten, so wurde deutlich, können wohl noch nicht als abschließend gelten.

Und was hat das alles mit „Reformation und Toleranz“ zu tun?, fragte am Ende der Moderator. Professor Dr. Jürgen Plöhn antwortete darauf selbst: Im Rechtsstaat findet inhaltliche Toleranz ihren Ausdruck im Recht. Dabei geht es jedoch nicht um philosophisch-theologische Wahrheitsfragen, sondern um das Zusammenleben von Menschen, also „praktische Toleranz“. Die dafür in einem jahrhundertelangen geschichtlichen Prozess den aufgetretenen Konflikten abgerungenen Regelungen stehen heute vor der Bewährungsprobe, ob und in wieweit sie auch in der Lage sind, die neuen Herausforderungen durch den Islam und andere Religionen in Deutschland zu bewältigen – eine spannende Frage!